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»Deine Leute sind wenigstens in Disneyworld«, sagte ihr Bruder Nick. Er stand in ihrer Küche. »Meine sind nur die Straße runter in Drumcondra, und ich kann kaum darauf hoffen, dass sie mich einen ganzen Monat in Frieden lassen. Hab ich dir erzählt, dass Janis letzte Woche ganz allein in einen Bus stieg und bis nach Newbridge fuhr?«

»Hast du.«

»Das Erstaunliche ist, dass der Bus nicht mal nach Newbridge fuhr, wie die Polizei sagte. Sie muss also irgendwo umgestiegen sein. Ich konnte mir mit fünf nicht mal die Schuhe zubinden.« Ein amüsiertes Lächeln spielte um seinen Mund, als er darüber nachdachte. Dann wechselte er das Thema. »Hast du noch Teebeutel, Grace?«

»Nein. Aber du kannst den da ja noch mal überbrühen.« Sie hatte vergessen, wie viel Tee er trank. Er hatte zwar Berge von Gepäck in der Eingangshalle abgeladen, aber Teebeutel waren offenbar nicht dabei. Und auch nichts zu essen, wenn man von einem Toffee Crisp absah. Vielleicht musste man ja für Verpflegung sorgen, wenn man jemanden bat, das Haus zu hüten. Wobei sie ihn eigentlich nicht gebeten hatten - er hatte es ihnen mehr oder weniger angeboten. Er hatte sogar darauf bestanden. Das war vor zwei Tagen gewesen, als sie alle Vorbereitungen erledigt hatten. Er meinte, es sei ein für beide Teile nützliches Arrangement - er könnte sein Album fertig stellen und gleichzeitig heimtückischen Einbrechern ihre ruchlosen Pläne versalzen. Ewan war nicht sehr begeistert gewesen. (Das hatte damit zu tun, dass seine Werbe-Jingles »nichts mit richtiger Musik zu tun hatten«, wie Nick bei einem Weihnachtsessen konstatiert hatte, bei dem zu viel Wein konsumiert worden war.) Aber Nick sei immerhin ihr Bruder, hatte Grace ihm entgegengehalten, und sie sollten froh sein, dass er bereit sei, ihnen auszuhelfen. Außerdem wäre es für ihn eine Erholung von der winzigen Wohnung, in die er nach der Trennung von Didi im letzten Jahr gezogen sei. Natürlich hatte sie nicht damit gerechnet, zu Hause zu sein, wenn er käme. Und als sie sah, wie der Tee auf ihren sauberen Küchenboden tropfte, wünschte sie, sie wäre nicht zu Hause.

»Wie geht‘s Dusty und Lennon?«, fragte sie.

Didi und Nick hatten ihre Kinder nach Rockstars benannt, was bei Babys originell gewesen war. Jetzt, mit vierzehn, wollte Dusty sich in Jane umbenennen.

»Großartig. Lennon will nicht mehr zur Schule gehen.«

Nick löffelte Zucker in seinen Tee. Die Hälfte ging daneben und landete auf der Arbeitsplatte.

»Tatsächlich?«

»Ich muss gestehen, dass ich es ihm nicht verübeln kann, wenn man die Staatspropaganda bedenkt.«

»Und was meint Didi dazu?«

»Didi! Sie sagt natürlich, dass er weiter hingehen muss. Dass er, wenn er jetzt aufhört, keine Qualifikationen hat, keine Chance auf einen anständigen Job, dass er sich seine ganze Zukunft verbaut, blablabla.«

»Immerhin ist er erst neun«, gab Grace zu bedenken. Beim Thema Didi war Vorsicht geboten - Nick konnte da sehr empfindlich reagieren.

»Didi hat gesagt, sie wird wahrscheinlich irgendwann mit Lennon vorbeikommen, um die Sache zu besprechen. Geht das in Ordnung, Grace?«

»Kein Problem. Ich hoffe nur, es geht mit eurem Album voran.«

»Mmm.« Er goss Milch in seinen Tee. Auch davon ging ein Teil daneben.

»Wie weit ist es denn überhaupt?«, fragte sie. »Was?«

»Das neue Album.«

»Wir haben noch gar nicht angefangen«, antwortete er.

»Oh. Okay.« Sie hatte gedacht, sie stünden unter Zeitdruck. »Hör mal, ich will nicht zickig sein - aber sag Derek und Vinnie bitte, sie sollen so parken, dass sie niemandem die Ausfahrt versperren, okay?«

Derek und Vinnie waren die beiden anderen Mitglieder der Steel Warriors.

»Sie werden wahrscheinlich nicht oft hier sein.« Er mied ihren Blick.

»Warum nicht?« Sie spielten Leadgitarre und Schlagzeug, um Himmels willen.

»Wir haben einen Richtungswechsel beschlossen«, verkündete er. »Um ehrlich zu sein, ich habe mich schon seit Jahren immer weiter von dem harten Rock entfernt. Er ist zu unreif und laut. Man kann ja kaum meine Texte verstehen.«

»Oh.« Grace bekam jedes Mal Komplexe, wenn er über Musik sprach. Das ging auf ihre Teenagerzeit zurück, als er sie zutiefst dafür verachtete, Duran Duran zu hören, während er in seinem Zimmer The Ramones spielte.

Nick stieß einen Seufzer aus, der die Küche erzittern ließ. »Ich denke, du würdest es irgendwann sowieso erfahren. Die Steel Warriors haben sich getrennt, okay?«

»Was?«

»Die Plattenfirma hat uns letzten Monat fallen lassen. Also gibt es keine Band mehr, kein neues Album, kein Geld, nichts. Und Didi sagt, sie hat es satt, jeden Penny umdrehen und die Kinder in Secondhandklamotten stecken zu müssen. Sie sagt, wenn ich ihr nicht die sechs Monate Unterhalt zahle, die ich ihr schulde, zerrt sie mich vor Gericht. Ist das nicht nett?« Das alles hatte er herausgesprudelt, ohne Luft zu holen. Nach einer kleinen Atempause fragte er: »Hast du was zu essen da? Ich hatte vorhin keine Zeit mehr, weil ich schon spät dran war.«

»Es müsste eine Pizza im Tiefkühler sein«, antwortete Grace, die sich wie betäubt fühlte. Die Steel Warriors hatten sich getrennt! »Und was wirst du jetzt machen, Nick?«

»Einen Computerkurs. In der Conliffe Road.« Das war der nächste Schock. Er beugte seinen langen, schlaksigen Körper und kramte in der Tiefkühltruhe herum. Grace konnte sich ihren Bruder beim besten Willen nicht als Büromenschen mit Schlips und Kragen vorstellen. Er schien dafür geboren zu sein, in Leder auf einer Freilichtbühne herumzuspringen.

»Und was machen die anderen ... äh ... Warriors?«, erkundigte sie sich.

»Derek ist bei Dublin Bus gerade befördert worden. Er hat jetzt die Verantwortung für sechsundneunzig Doppeldecker. Und Vinnie bleibt bei der Versicherung.«

»Ist ja toll!«, meinte Grace sarkastisch.

»Seine Frau ist wieder schwanger.«

»Weißt du, warum nichts aus euch geworden ist? Weil du der Einzige warst, der hundert Prozent gegeben hat, Nick.«

»Vielleicht war das dumm von mir.«

Grace war entsetzt. »Sag das nie wieder!«

»Warum nicht? Ich bin fünfunddreißig, Grace - und sieh mich an! Eine gescheiterte Band, eine gescheiterte Ehe, drei Kinder, die sich niemals meine Platten angehört haben - sie stehen auf Hip-Hop, großer Gott! Ich habe kein Geld, keine Qualifikationen, keine Wohnung ...«

»Keine Wohnung?«

»Hab ich dir das nicht erzählt? Ich bin irgendwie mit der Miete in Verzug geraten. Ist es okay, wenn ich hier bleibe, bis ich was gefunden habe?«

»Ahhh ...«

»Danke. Jedenfalls ist alles aus. Ich habe gestern meine Gitarre verkauft und mir von dem Erlös Computerlehrbücher besorgt. Ich fange ein neues Leben an.« Als sie nichts sagte, meinte er: »Du könntest mir wenigstens Glück dafür wünschen.«

»Entschuldige. Es fällt mir einfach schwer, das alles zu begreifen.«

»Mir auch«, sagte er traurig.

»Erinnerst du dich noch an euren ersten Auftritt?«, fragte sie nach einer Weile. »Als musikalische Unterstützung bei dem Feuerwehrball?« Sie war sechzehn gewesen und halb verrückt vor Aufregung, als ihre Eltern sagten, sie dürfe hingehen.

»Mein Gott, ja«, sagte Nick. »Derek hatte sich mit Apfelwein voll laufen lassen, und Vinnie war so nervös, dass er nicht mehr wusste, wie man eine Gitarre stimmt.«

»Aber du warst einsame Spitze«, rief Grace. »Du standest auf der Bühne, als gehörte dir der Laden! Zeigtest dem Publikum die Notausgänge und drohtest, du würdest sie mit dem Kopf zuerst vor die Tür befördern, wenn sie nicht aufhörten, euch mit Sachen zu bewerfen.«

»Und sie hörten tatsächlich auf.« Jetzt war auch Nick aufgeregt. »Wir schafften es, drei ganze Songs zu spielen, und sie gefielen ihnen! Und deine Freundin ... wie hieß sie gleich? Fidelma?«

»Philomena.«

»Richtig. Wie die am Ende in Ohnmacht fiel. Gott, war das schön!«

»Ja, das war es.« Grace klatschte in die Hände. Danach waren sie alle stundenlang durch Dublin gewandert, zu jung, um in Pubs reinzukommen, und zu aufgedreht, um nach Hause zu gehen. Grace war damals davon ausgegangen, dass dieser Abend der Anfang eines weltweiten Siegeszuges der Steel Warriors sei und sie durch ihre Verwandtschaft mit Nick einen kleinen Anteil daran haben würde - auch wenn sie ihre Musik, nun ja, entsetzlich fand.

Aber das hatte sie natürlich nicht gesagt. Stattdessen ließ sie sich einen damals in der Rockszene angesagten Bob schneiden. Die erste Single der Steel Warriors trug den Titel »Dead Dingo« und verkaufte sich ganz ordentlich. Die nächste Scheibe floppte total, doch Grace glaubte weiter an den Erfolg - und an Nick.

»Wie kannst du es ertragen aufzugeben«, platzte sie heraus. Die Steel Warriors waren sein Leben. Wie schlimm es auch kam - er war immer so sicher gewesen, dass richtig war, was er tat. Solche Menschen beflügelten andere normalerweise. Und jetzt gab er klein bei und sich mit einem Bürojob zufrieden?

»Was habe ich denn zu verlieren?«, gab er zurück. »Vor fünf Leuten aufzutreten?«

»Ihr seid vor mehr als fünf Leuten aufgetreten.«

»Unsere Plattenfirma hat uns fallen lassen, Grace.«

»Na und? Dann findet eine neue!« Warum war er nur so zynisch und hart und abgeklärt? »Ich weiß, dass es schwer ist - aber willst du nicht noch einen Versuch starten?«, flehte sie. »Bist du das dir und den Jungs nicht schuldig?«

»Die Energie aufzubringen, noch ein Album aufzunehmen, damit du fünfzehn Stück kaufen kannst?« Grace wurde rot.

»Ich hab sie in der Garage gesehen, als ich meinen Wagen reinstellte. Willst du sie deinen Dinnerparty-Freunden aufs Auge drücken?«

Sie schaute ihm geradewegs in die Augen. »Ich schenke sie tatsächlich Freunden und sage dazu, wie großartig ihr seid. Wie toll ich es finde, dass ihr an eurem Traum festgehalten habt!«

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, bereute sie ihre Überschwänglichkeit auch schon.

Nick lachte schallend, aber unfroh. »Jeder kann an seinem Traum festhalten, wenn es ihn nicht stört, damit baden zu gehen. Aber damit kennst du dich nicht aus, stimmt‘s?«

Das unbehagliche Schweigen, das seinen Worten folgte, wurde durch ein Klopfen beendet. Hilda Brennan von nebenan streckte den Kopf zur Hintertür herein. »Ich hatte Stimmen gehört und wollte mich nur vergewissern, dass hier keine wilde Party veranstaltet wird oder so was«, erklärte sie in frostigem Ton. »Obwohl ich meine Nase eigentlich nicht in fremder Leute Angelegenheiten stecke, wenn ich nicht darum gebeten werde.« Ihre Stimme drückte Verletztheit und Selbstgerechtigkeit aus.

»Nein - wir sind es nur«, sagte Grace. »Ich bin nun doch nicht mit Ewan und den Jungen geflogen.«

»Sie und Ewan haben sich getrennt«, erklärte Nick. Das war seine Art von Humor.

Doch Hilda, die keine Art von Humor besaß, machte einen energischen Schritt auf ihn zu und bellte kriegerisch: »Was reden Sie denn da?«

Grace ging hastig dazwischen. »Das ist mein Bruder Nick, Hilda. Nick - das ist meine Nachbarin Hilda.«

»Hallo«, sagte Nick.

Hilda bedachte ihn mit einem angewiderten Blick und schaute Grace dann kopfschüttelnd an, als wolle sie sagen: »Dem hast du den Vorzug vor uns gegeben?« O nein, sie war noch nicht eingerissen, die Mauer zwischen den Tynans und ihren guten Freunden, den Brennans von nebenan, zu deren Errichtung Nick vor zwei Tagen unwissentlich beigetragen hatte. Harry und Hilda waren in höchstem Maße gekränkt gewesen, als ihnen eröffnet wurde, dass sie kein Auge auf das Haus haben müssten, während die Familie verreist sei, wie sie es in den letzten zehn Jahren immer hatten. Harry hatte Ewan gefragt, ob sie ihnen nicht mehr über den Weg trauten und glaubten, sie würden das Silber stehlen, und Hilda war gestern nicht wie üblich zum Kaffee herübergekommen und hatte ihre Wäsche erst nach Einbruch der Dunkelheit hinausgehängt. Die Sache drohte zu eskalieren, und so hatte Grace ihren Mann gestern Abend mit einer Flasche Whiskey und einem Blumenstrauß hinübergeschickt.

Hilda stand wie ein Fels in der Küche, und Nick machte Hilfe suchend einen Schritt in Graces Richtung. Aber Grace hatte für heute genug davon, Männer zu betütern, und so griff sie sich ihre Autoschlüssel. »Ich muss einen Herd putzen.«

»Was?«, fragte Nick entgeistert. »Bis später«, sagte sie und ging.

»Schau sie an. Sie sieht so ... alt aus. Und winzig!«

»Reg dich nicht auf, Gillian. Frisch operiert sieht niemand aus wie das blühende Leben.«

»So könnte ich jetzt daliegen, wenn es eine Bronchitis gewesen wäre, Michael.«

»Nun, Gott sei Dank war es ja nur ein zu enger Büstenhalter.«

»Das ist bisher reine Theorie. Die Testergebnisse sind noch nicht da.«

Julia hörte die gedämpften Stimmen wie aus weiter Ferne. Sie wusste nicht genau, wo sie sich befand. Das konstante Piep Piep Piep dicht neben ihrem Ohr deutete auf ein Raumschiff hin. Oder einen Spielsalon. Aber um die Automaten zu bedienen, müsste sie doch wohl aufrecht stehen.

Eine neue Stimme. Kindlich. Weinerlich. »Dad, darf ich den Fernseher anmachen?«

»Ich habe bereits nein gesagt.«

»Aber Buffy läuft!«

»Susan! Deine Großmutter ist angeschossen worden und gerade erst operiert.«

»Aber sie wird doch nicht sterben, oder?« Plötzlich erinnerte Julia sich an die Ereignisse des Morgens, und sie begriff, dass sie sich in einem Krankenhausbett von einer Schussverletzung erholte und nicht mit Hilfe von Tabletten in einem Raumschiff der Ewigkeit entgegensteuerte. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, doch ihre Lider fühlten sich an wie zugeklebt und sie hatte einen ekelhaft-giftigen Geschmack in ihrem Mund, der weit offen stand. Das tat auch das Kliniknachthemd, wodurch jeder freie Sicht auf ihre Unterhose hatte (das merkte sie, weil sie auf der Seite lag und es hinten reinzog.) Wunderbar. Sie wollte sich auf den Rücken drehen, brachte aber nicht die Kraft dazu auf. Genau gesagt hatte sie das Gefühl, als würde sie jeden Moment in winzige Stückchen zerbrechen - und die in den Weltraum davonschweben und ein angenehmes Nichts hinterlassen würden. Halt! Vielleicht lag sie ja im Sterben! Vielleicht war es das. Der große Abgang. Wahrscheinlich war die Familie mit gebotener Grabesstimme telefonisch an ihr Bett zitiert worden: »Die Fußoperation bei Ihrer Mutter lief leider nicht so glatt wie gehofft. Vielleicht kommen Sie besser her.« Und jetzt waren sie alle versammelt, mit ernsten Gesichtern und griffbereiten Taschentüchern, um Zeugen des bedeutenden Augenblicks zu werden. Möglich, dass sogar der Krankenhausgeistliche gegen Ende käme. Bei JJ war er gekommen, dann würde er es bei ihr doch auch tun, oder? Anschließend würden sie alle in ein gemütliches Pub gehen und erzählen, was für ein wunderbarer Mensch sie gewesen war.

Einen Moment lang war Julia überwältigt. Ihre Zeit war gekommen. Sie würde sterben.

»Mammy! Hörst du mich? Mammy, ich bin‘s - Michael!« Natürlich konnte er sie nicht in Frieden sterben lassen! So war er schon als Kind gewesen. Immer forderte er ihre Aufmerksamkeit, immer bettelte er »Schau doch, was ich kann!«. Und wenn sie dann schaute, dann machte er gar nichts. Er hatte wieder nur erreichen wollen, dass sie ihn ansah. Komischer, kleiner Michael.

»Mammy?« Dann sagte er: »Versuch du‘s mal, Gillian.« Stuhlbeine scharrten über den Boden, und dann klimperte laut ein Armband an Julias Ohr, und ein Finger bohrte sich in ihren Oberarm. Oh, es war zum Verrücktwerden! Niemand könnte unter solchen Umständen sterben.

»Julia? Hier ist Gillian.« Erwartungsvolles Schweigen. Julia achtete darauf, sich ja nicht zu bewegen. »Julia! Wir fahren jetzt zum Tee nach Hause, aber morgen früh kommen wir wieder, okay?«

Zum Tee? Sie würde wohl kaum sterben, wenn ihre Familie heimführe, um sich in aller Ruhe mit Sandwiches voll zu stopfen. Wahrscheinlich war ihr Zustand nicht einmal kritisch.

Zwei Schlappen an einem Tag. Niedergeschlagen lag sie mit fest geschlossenen Augen regungslos da und registrierte die Geräusche des Aufbruchs: das Schnappen von Gillians Handtaschenverschluss, das Sirren von Susans Reißverschluss, das Klimpern von Autoschlüsseln. »Susan, verabschiede dich von deiner Großmutter.«

»Sie kann mich doch gar nicht hören, Dad.«

»Trotzdem wäre es eine nette Geste.« Julia war beinahe gerührt, doch dann stimmte Gillian mit ein: »Ich habe in einem meiner medizinischen Bücher gelesen, dass viele Komapatienten auf die Stimmen ihrer Angehörigen reagieren. Stellt euch das vor!«

»Tatsächlich.« Michael klang ungeduldig. Kein Wunder nach fünfzehn Jahren Ehe mit dieser Hypochonderin.

»Es gibt da eine Fallstudie über einen Mann, der zwölf Jahre im Koma lag - vegetierte dahin, der Arme -, und genau an dem Tag, als die lebenserhaltende Maschine abgeschaltet werden sollte, hörte er die Stimme seines Enkels, und da erwachte er plötzlich und sagte das Alphabet auf.«

»Ich will mich von ihr verabschieden«, quengelte Susan auf einmal.

Wie gern wäre Julia aufgesprungen und hätte den dreien einen gehörigen Schrecken eingejagt! Aber unglücklicherweise hatte sie nicht die Kraft dazu und war gezwungen, hilflos dazuliegen, als Susan sich über ihr Ohr beugte. »Granny? Ich bin‘s - Susan.« Pause. »Deine Enkelin.« Dann, mürrisch: »Sie hat nichts getan.«

»Dann versuchst du‘s eben morgen früh noch mal«, sagte Gillian besänftigend.

Einen Moment lang war es ganz still im Zimmer, und Julia dachte schon, sie seien gegangen.

Doch dann: »Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen, Michael.«

»Ich weiß.«

»Ich meine ... es musste ein Notarztwagen kommen, um Himmels willen!«

»Ich weiß.«

»Dafür werden wir wahrscheinlich eine Rechnung kriegen.«

»Das interessiert mich nicht. Ich hoffe nur, dass die Frau vor Gericht gestellt wird, die sie angeschossen hat.«

»Es war ein Unfall, Michael - und er wäre nicht passiert, wenn deine Mutter nicht durchgedreht und mit einem Gewehr herumgefuchtelt hätte.«

»Bitte sprich nicht in diesem Ton über sie.«

»Ich wollte das nur klarstellen. Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen.«

Dann waren sie weg, und Julia bedauerte es beinahe. Was hatte ihre Schwiegertochter wohl damit gemeint, dass sie sich etwas einfallen lassen müssten? Bevor sie sich ernsthaft den Kopf darüber zerbrechen konnte, driftete sie in Sphären ab, die weder angenehm noch unangenehm waren.

Rachel, ich mach jetzt Pause. Die beiden Akten sind für Dr. Ryan. Soll ich dir einen Schokoladenmuffin mitbringen?

Julia kehrte nur sehr widerwillig in die Realität zurück. Sie hatte von JJ geträumt. Er hielt ein etwa halbjähriges Kind in den Armen - Michael - und schaute voller Liebe und Stolz darauf hinunter.

Sie versuchte, JJs geliebtes Gesicht festzuhalten, doch es verschwamm und verzerrte sich. Und warum trug er plötzlich Lippenstift?

»Na, da sind Sie ja wieder.« Eine Schwester beugte sich über sie. Sie hatte Schokoladenkrümel auf ihrem Kittel.

»War meine Familie da?«, erkundigte sich Julia, um sicherzugehen, dass sie das nicht auch geträumt hatte.

»Und ob! Alle sehr besorgt um Sie«, sagte die Schwester. »Er sieht Ihnen sehr ähnlich, nicht wahr? Ihr Sohn, meine ich.«

Julia war verblüfft. »Na ja - um den Mund herum vielleicht ein bisschen ...«

Sie war noch nie auf den Gedanken gekommen, dass Michael und sie einander in irgendeiner Weise ähnelten, nicht einmal äußerlich.

»Er ist Ihr absolutes Ebenbild«, erklärte die Schwester mit Nachdruck.

»Können Sie die Besuche irgendwie begrenzen?«

»Wie bitte?«

»Sie können ihnen doch sagen, dass ich Ruhe brauche und nicht gestört werden darf«, schlug Julia in munterem Ton vor.

»Ah ... da muss ich erst mit der Stationsschwester reden ...«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das bald täten.«

»Ich möchte mich nach Mrs Carr erkundigen. Nach Mrs Julia Carr.«

Die Empfangssekretärin am anderen Ende der Leitung fragte in dienstlich-freundlichem Singsang: »Auf welcher Station liegt sie, bitte?«

»Das weiß ich nicht. Sie sollte operiert werden, und ich möchte wissen, ob alles gut gegangen ist.«

»Sind Sie eine Verwandte?«

»Eher eine besorgte Beobachterin«, antwortete Grace nach kurzem Zögern. Es hatte wenig Sinn, die Situation am Telefon zu erläutern.

»Wir dürfen Informationen nur an Verwandte herausgeben.« Jetzt klang die Stimme nur noch dienstlich.

»Können Sie mir wenigstens sagen, ob ich sie besuchen darf?«

»Wenn sie frisch operiert ist, würde ich von einem Besuch abraten. Umso mehr, wenn Sie keine Verwandte sind.«

Herrgott noch mal! »Aber ihre Verwandten sind alle tot«, protestierte Grace. »Zumindest beinahe.«

Die Frau am anderen Ende ließ sich nicht erweichen. Grace legte auf und schaute Frank kopfschüttelnd an.

»Ich gebe Ihnen Michaels Nummer«, erbot er sich. »Er ist ihr Sohn. Von ihm werden Sie mehr erfahren.« Er begann in einer Schublade zu kramen. Grace war vorbeigekommen, um Ersatzschlüssel für Mrs Carrs Haus zu holen. Sie wollte den Abend darauf verwenden, den rußgeschwärzten Herd zu putzen und die rauchgeschwärzten Vorhänge zu waschen. Das war unter diesen Umständen das Mindeste, was sie für die arme Frau tun konnte. Hoffentlich hatten Nick und Hilda zu Hause Freundschaft geschlossen.

Frank streckte ihr einen Zettel mit einer Telefonnummer hin und fragte schüchtern: »Möchten Sie vielleicht ein Foto von Sandy sehen?«

»Gern«, antwortete sie.

Das Bild, das sie sich von Franks Zukünftiger gemacht hatte, zeigte sie als unscheinbare, pummelige bis fette Person mit schiefen Zähnen und einem gebleichten Damenbart. Oh, sie wusste, das war unfair, aber wen sollte man sich sonst an Franks Seite vorstellen? Cindy Crawford?

Und so war sie gänzlich unvorbereitet auf den Anblick, der sich ihr in dem Silberrahmen bot, den Frank ihr reichte. »Das ... das ist Sandy?«

»Ja.«

Sandy war blond, sonnengebräunt, durchtrainiert und schlank. Sie hatte herrlich große, aber feste Brüste, eine schmale Taille, ebenmäßige, strahlend weiße Zähne und war keinen Tag älter als dreißig.

Jetzt wusste Grace, warum Sandy täglich vier Stunden im Badezimmer zubrachte. Jedes Haar auf ihrem Kopf saß an seinem Platz, ihr Make-up war untadelig, und ihre leuchtend lackierten Fingernägel hatten eine perfekt ovale Form. Es machte Grace schon müde, sie nur anzusehen. Nur eines störte: Ihre rechte Hand war direkt am Handgelenk abgehackt.

»Sie hat doch nicht... die Hand fehlt doch nicht wirklich, oder?«, entschied sie sich, nicht um den heißen Brei herumzureden.

»Oh, nein. Auf dem Foto war auch ihr Exfreund drauf, wissen Sie. Ihre Hand lag auf seiner Schulter. Und da sie mich nicht verletzen wollte, schnitt sie ihn kurz entschlossen ab.« Der Ex musste ziemlich klein gewesen sein, etwa einen Meter groß, schätzte Grace. Nein, das konnte nicht sein. Wahrscheinlich hatte er vor ihr gekniet oder so. Schließlich war sie eine Schönheit, und es gab sicher Männer, die vor ihr auf die Knie sanken. Grace war fair genug, ihr das zuzugestehen.

»Sie ist wunderschön, Frank.«

»Ja.« Er nahm das Foto zurück und drückte es beschützend an seine Brust. »Es ist die einzige Aufnahme, die ich von ihr habe. Ich bitte sie ständig, mir noch welche zu geben, aber sie sagt, sie hätte keine, weil sie Hemmungen habe, sich fotografieren zu lassen.«

Also war Sandy zu allem Überfluss auch noch bescheiden. Wenn ich so hübsch wäre, würde ich mich unentwegt fotografieren lassen, dachte Grace. Was nicht heißen sollte, dass sie hässlich war. Aber sie sah durchschnittlich aus, und das war bestimmt das Allerschlimmste, was einer Frau passieren konnte.

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Frank in kriegerischem Ton.

Grace sah ihn erschrocken an. »Was?«

»Es ist mir durchaus bewusst, dass ich kein Adonis bin, okay?«

»Frank ...«

»Ich wurde auf dem Internat zum ›Schüler, der höchstwahrscheinlich allein bleiben wird‹ gekürt. Zweimal. Aber Sandy sagt, Aussehen sei ihr nicht wichtig. Sie sagt, sie hat die Knaben satt, die sie andauernd anbaggern. Sie geht in keine Klubs und Bars und Fitnesscenter mehr, weil dort lauter gut aussehende Muskelprotze versuchen, sie ins Bett zu kriegen.«

In Graces Ohren klang das nach dem Himmel auf Erden, doch sie murmelte mitfühlend: »Wie schrecklich.«

Frank fuhr schwärmerisch fort: »Sie sagt, sie hatte, bis sie mich kennen lernte, niemals eine tief gehende Beziehung, dass ich das Licht ihres Lebens bin und dass wir Gott auf Knien danken müssen, dass wir einander gefunden haben!« Grace war ein wenig irritiert. Sandy schien leicht überdreht zu sein. Offenbar liebte sie Frank über alle Maßen.

Was natürlich phantastisch war. Selbstverständlich würde die Verliebtheit nachlassen - für gewöhnlich nach den ersten Ehejahren, und mit der Geburt des ersten Kindes mehr oder weniger erlöschen. Nach dem zweiten Kind war sie dann nur noch ein Relikt aus vorgeschichtlicher Zeit, das seinen alten Kopf kurz am Valentinstag erhob und vielleicht während eines Sommerurlaubs auf Kreta oder sonst wo, nach zu viel Wein in einer Bar und einem Strandspaziergang zu den Bella-Vista-Familien-Apartments. Grace ließ den voller Sehnsucht auf Sandys Foto starrenden Frank allein und ging zu Mrs Carrs Haus hinüber. Aufgrund ihres Berufes war sie gewohnt, die Häuser fremder Leute in deren Abwesenheit zu betreten, und innerhalb kürzester Zeit vertraut mit den Lichtschaltern und lockeren Dielen im Wohnzimmer, die einen ins Stolpern brachten, wenn man nicht aufpasste. Nicht, dass sie hineingegangen wäre, um zu schnüffeln - die mit Schuldbewusstsein gepaarte Neugier, wie andere Leute lebten, gehörte längst der Vergangenheit an. Nein, sie hatte von der Straße aus gesehen, dass das Panoramafenster einen Spalt breit offen stand. Als sie mit einem Ruck den Vorhang beiseite zog, sah sie einen Mann auf das Gartentor zukommen und, als sie das Fenster mit einem Knall schloss, erschrocken zurückzucken. Er hatte einen Rucksack dabei und eine aus der Entfernung undefinierbare Rolle unter dem Arm, mit der er, als er die Hand in seinem Schrecken hochriss, gegen den Außenspiegel von Lisas BMW schlug. Er landete scheppernd auf dem Asphalt.

Einen Moment lang schauten sie einander durch das geschlossene Fenster an. Dann öffnete Grace es wieder.

»Tut mir Leid.« Er sammelte die Scherben auf und versuchte. den Spiegel wieder zusammenzusetzen.

»Nein, mir tut es Leid. Lassen Sie‘s gut sein.«

»Aber Ihr...«

»Es ist nur passiert, weil ich das Fenster zugeknallt und Sie erschreckt habe ...«

»Ich wollte das nicht ... der Spiegel ist einfach abgebrochen ...«

»Halb so schlimm. Es ist keine große Sache, einen neuen montieren zu lassen.« Sie lächelten einander an.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte sie schließlich.

»Ist das hier das Park View House?« Er klang wie ein Australier oder vielleicht auch ein Neuseeländer. Seine Surfer-Shorts konnten aus jedem der beiden Länder stammen. Und er war eher ein Junge als ein Mann. Vielleicht Anfang zwanzig. Nicht dass Grace eine gute Schätzerin gewesen wäre - je älter sie wurde, umso ungenauer erriet sie das Alter von Jüngeren. Was allerdings nur fair war, wenn man bedachte, wie haarsträubend sich Teenager bei allen über fünfundzwanzig verschätzten.

»Ich weiß es nicht«, musste Grace zugeben. Es gab keinen Park in der Umgebung, was jedoch nichts heißen musste. Sie hätte einen ganzen Tag lang Beispiele dafür aufzählen können, was für alberne Namen Leute ihren Häusern gaben (La Maison Rouge für einen ehemaligen Sozialbau in Crumlin!). Sie machte das Fenster weiter auf und lehnte sich hinaus, um die Hausnummer über der Eingangstür lesen zu können. »Jedenfalls ist es Nummer 28. Welche Nummer suchen Sie?«

Er zog einen zerknitterten Zettel zurate und schaute dann wieder zu ihr auf. Seine Augen waren leuchtend blau. Vielleicht täuschte das aber auch, weil er so braun war. »Hier steht keine Hausnummer. Nur Park View House. Mrs Julia Carr?«

»Oh! Ja!«

»Freut mich, Sie kennen zu lernen.«

»Nein, nein, ich bin nicht Mrs Carr. Ich bin ...« Es war alles viel zu kompliziert, und darum sagte sie nur: »Sie sind schon richtig hier. Das Haus gehört ihr.«

Er gab sich mit dieser Information zufrieden. »Großartig. Ich dachte schon, ich hätte mich verirrt.« Er lächelte sie an. »Für gewöhnlich verirre ich mich allerdings nicht.«

Nun, da er sicher war, am Ziel zu sein, öffnete er das Gartentor. Er trug die größten Stiefel, die sie jemals bei einem Menschen gesehen hatte. Wanderstiefel. Und jetzt wippte er darin. Seine blonden Dreadlocks standen vom Kopf ab wie Stummelschwänze von Welpen, und auf einer Seite blitzte ein Ohrring.

»Und«, sagte er. »Werden Sie mich reinlassen?«

»Wie bitte?«

»Ins Haus.«

Grace lächelte ebenfalls, obwohl sich in ihrem Kopf die möglichen Folgen überschlugen, die dieses Ansinnen zeitigen könnte. »Sie möchten hereinkommen?«, fragte sie der Klarheit halber.

»So ist es.« Er schaute wieder auf seinen Zettel. »Wollen Sie das Geld vielleicht im Voraus haben?«

»Nein, nein, absolut nicht«, erwiderte sie fröhlich, und ihre Verwirrung wandelte sich zu einer lächerlichen Entschlossenheit. diesen Kampf auszufechten. »Hat Mrs Carr denn etwas von einer Vorauszahlung gesagt?« Ein dreifaches Hoch auf den Erfinder der Gegenfrage-Taktik!

»Sie sagte, ich könnte bezahlen, wenn ich abreise.«

»Ich verstehe«, antwortete sie, obwohl sie das absolut nicht tat.

»Ich habe gebucht, wissen Sie«, sagte er. »Ich bekam Mrs Carrs Nummer vom örtlichen Fremdenverkehrsbüro und rief letzte Woche bei ihr an.«

Natürlich! Die Frau betrieb eine Frühstückspension. Grace achtete darauf, dass ihr Gesichtsausdruck sich nicht änderte. »Ich fürchte, es gibt ein kleines Problem«, eröffnete sie ihm. »Mrs Carr liegt im Krankenhaus.«

»Oh.«

»Sie wird erst in ein paar Tagen herauskommen.«

»Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.« Er sah aus, als meine er, was er sagte.

»Eine Fußverletzung«, erklärte Grace vage. »Aber sie wird auch nach ihrer Entlassung erst einmal nicht in der Lage sein, sich um Gäste zu kümmern, und darum ...«

»Oje.« Sein Lächeln machte Bestürzung Platz.

»Es tut mir sehr Leid«, sagte sie. »Vielleicht finden Sie ja woanders eine Unterkunft.«

»Ich werde es versuchen.« Er hievte den Rucksack höher auf seine breiten Schultern und klemmte sich die Rolle unter den anderen Arm. Sie musste ganz schön schwer sein, sonst hätte sie den Außenspiegel von Lisas BMW nicht so leicht abschlagen können, und der junge Mann verzog auch ein wenig das Gesicht. »Dürfte ich vielleicht bei Ihnen telefonieren?«

Grace zögerte. Sie wollte eigentlich keinen Fremden in ein Haus lassen, das ihr nicht gehörte. »Meine Handykarte ist leer, und ich müsste sonst den ganzen Weg zum Bahnhof zurückgehen. Und offen gestanden bin ich total erledigt.«

Er sah wirklich müde aus, und außerdem war sie an dieser Situation nicht ganz unschuldig.

»Also schön - kommen Sie rein. Ich bin sicher, dass es hier irgendwo ein Telefonbuch gibt.«

Kaum über die Schwelle getreten, zog er unaufgefordert seine Stiefel aus. Grace sah zu, wie er sie ordentlich nebeneinander stellte und dann seinen Rucksack und die Rolle daneben. Offenbar herrschten in Australien andere Sitten. Oder vielleicht gehörte er einer Religion an, die Fußbekleidung in geschlossenen Räumen verbot. Sie ließ ihre Schuhe an und führte ihn ins Wohnzimmer, setzte ihn in Mrs Carrs abgeschabten, roten Lehnsessel und brachte ihm Mrs Carrs schnurlosen Apparat und ein örtliches Telefonverzeichnis.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte er. Seine Manieren waren tadellos. Und er hatte schöne Zähne. Seine Haare allerdings hätte sie für ihr Leben gern gebürstet. Aber die Hauptsache war, dass er nicht den Eindruck machte, als würde er sich mit Mrs Carrs Wertsachen aus dem Staub machen, sobald er unbeobachtet wäre. Trotzdem ließ sie die Küchentür offen, als sie sich mit den von zu Hause mitgebrachten Putzmitteln an den Herd machte. Sie richtete nicht viel aus - er würde wohl für immer schwarz bleiben. Angesichts dessen, dass Nick ihre Küche mit Beschlag belegt hatte, könnte sie sich heute Abend vielleicht sogar hier etwas kochen.

Ihr Bruder irritierte sie schon jetzt, wie er das ihre ganze Kindheit hindurch getan hatte. Wie sollte sie da mit ihm unter einem Dach leben, bis sie nach Florida fliegen könnte? Wann auch immer das sein würde. Falls es überhaupt so weit käme. Plötzlich wurde ihr bewusst, was sie alles versäumte: das schmuddelige Motel, Critter Country, Hot Dogs und buttertriefendes Popcorn - all das würde sie nicht erleben. Ihre neuen Riemchensandalen würden in der Schachtel bleiben, zusammen mit der Chance, den seltsamen Kunstmenschen abzuschütteln, zu dem sie geworden war. Sie steckte in den Midlands fest und musste sich um eine verschrobene alte Schachtel kümmern. Schöne Ferien!

»Darf ich mal stören?«

Der Junge stand in der Küchentür. Es bereitete ihr Mühe zu lächeln. »Ja?«

»Ich habe heute offenbar kein Glück.«

»Sind alle ausgebucht?«

»Es gibt nur vier Pensionen in der Stadt«, erklärte er ihr. »Drei haben kein Zimmer frei, und Dairy Cottage ist letzten Monat abgebrannt.«

»Großer Gott.«

»Irgendein Gast hatte im Bett geraucht. Jedenfalls danke ich Ihnen, dass ich telefonieren durfte.« Sie sah, dass er seine Stiefel wieder anhatte und den Rucksack über den Schultern und die Rolle unter dem Arm. Jetzt erkannte sie, dass bunt bedrucktes Papier in der durchsichtigen Plastikhülle steckte, aber Genaueres konnte sie nicht ausmachen.

»Wo wollen Sie dann jetzt hin?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich werde schon was finden.« Natürlich würde er das nicht. Wollte er sein müdes Haupt vielleicht in die Asche von Dairy Cottage betten? Sie sagte sich, dass sie nicht für ihn verantwortlich war, doch eingedenk dessen, dass sie seine Wirtin angeschossen hatte, klang es nicht sehr überzeugend. Aber was sollte sie machen? Ihn mit nach Dublin nehmen? Nick würde einen Anfall kriegen. Ewan desgleichen. Und vielleicht brauchte Mrs Carr das Geld dringend. Nach dem Zustand des Hauses zu urteilen, war sie nicht mit Reichtümern gesegnet. Graces Schuldgefühle wurden noch größer. Sie hatte die alte Lady nicht nur in den Fuß geschossen, sondern brachte sie jetzt auch noch um ihr mageres Einkommen.

Grace schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. »Meinen Sie, Sie werden morgen früh eine Unterkunft finden?«, fragte sie.

Er schaute sie hoffnungsvoll an. »Ganz bestimmt.«

Sie traf eine Entscheidung. »Okay. Eine Nacht. Für Ihr Abendessen müssen Sie allerdings selbst sorgen.«

»In Ordnung. Was ist mit Frühstück?«

»Was soll damit sein?«

»Na ja - wenn ich für eine Übernachtung mit Frühstück bezahle, sollte ich auch ein Frühstück kriegen, finden Sie nicht?«

Da hatte er Recht.

»Sie werden Ihr Frühstück bekommen«, versprach sie großspurig.

»Und Handtücher gibt es auch, ja?«

»Natürlich. Ich werde mich sofort darum kümmern.«

Sie steuerte in ihrer neuen Position als Pensionswirtin auf die Treppe zu und stellte fest, dass sie diese Entwicklung nicht einmal überraschte, denn ihr so sorgfältig geplanter Tag war ja gleich zu Anfang auf den Kopf gestellt worden. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal mit der Wimper zucken, wenn in diesem Moment das Dach auf sie herabstürzte.

»Fühlen Sie sich wie zu Hause«, rief sie dem Jungen, von einem unerklärlichen Glücksgefühl erfasst, übermütig über die Schulter zu.

Er bückte sich und zog seine Stiefel wieder aus.